Schwedens Strategie am Ende?

Ist die schwedische Coronavirus-Strategie gescheitert?

Zweifel an den Prognosen mehren sich

Selbst die Schweden scheinen Schwedens Strategie aufzugeben. Da die zweite Coronavirus-Welle massiv Wirkung zeigt haben ihre Behörden Versammlungen von mehr als acht Personen ab 9. November verboten und weitere Beschränkungen wie Schutzmaßnahmen für Pflegeheime und Alkoholverbote in Restaurants und Bars nach 22 Uhr, … erlassen.

Nicht nur Tonfall wurde schärfer

Auffallend ist der veränderte Tonfall angesichts des bisher lockeren Umgangs mit der Pandemie in Schweden. „Es ist ein klares und scharfes Signal an alle in unserem Land, was in Zukunft gilt“, stellte Ministerpräsident Stefan Lofven bei seiner Pressekonferenz fest. „Gehen Sie nicht ins Fitnessstudio, gehen Sie nicht in die Bibliothek, gehen Sie nicht auswärts essen, feiern Sie keine Partys – sagen Sie alles ab!

Schwedens Strategie aus Versuchen und Irrtum lernen

Schweden hatte sich mit seiner lockeren Politik von seinen nordischen Nachbarn abgesetzt. Nur das autokratischen Weißrussland, verzichtete ebenfalls auf größere Coronavirus-Sperren wie die Schweden. In beiden Ländern wurden die Pflegeheime des Landes von dem Virus massiv heimgesucht. Es gab viel Tote. Daneben ging im Großteil des Landes das Leben seinen gewohnten Gang. Die meisten Schulen und Geschäfte blieben geöffnet, und die schwedischen Gesundheitsbehörden rieten sogar vom weit verbreiteten Tragen von Masken ab.

Nicht überall hin übertragbare Rahmenbedingungen

Während rechte Politiker in den USA das „schwedische Modell“ begrüßten, beharrten schwedische Beamte darauf, dass ihre Methoden möglicherweise nicht anderswo reproduzierbar seien. In einem Interview mit Today’s WorldView Anfang des Jahres betonte Karin Ulrika Olofsdotter, die schwedische Botschafterin in Washington, dass das weit verbreitete Vertrauen in die öffentlichen Einrichtungen des Landes bedeute, dass die meisten Schweden freiwillig sozial distanzierende Richtlinien beachten würden. Schwedens robustes soziales Sicherheitsnetz und ein verstärkter bezahlter Krankenstand würden dazu beitragen, dass mehr Schweden zu Hause bleiben würden, wenn sie Symptome verspürten oder befürchteten, sich an ihrem Arbeitsplatz mit dem Virus anzustecken.

Kein nordisches Wunder zu erwarten

„Das Virus wird es noch lange geben, also müssen wir etwas haben, mit dem wir leben können“, sagte Olofsdotter und fügte hinzu, dass das Land seinen Kurs ändern könnte, wenn sich sein Ansatz als unwirksam erweisen sollte. Dieser Moment könnte nun gekommen sein. Anfang November wurden in Schweden täglich fast 6.000 neue Fälle von Corona registriert. Die Gesamtzahl der Infektionen liegt bei fast 200.000 in einem Land mit 10 Millionen Einwohnern. In der Hauptstadt Stockholm ist jeder Fünfte positiv getestet, und die offizielle Zahl der positiven Fälle könnte bei einer größeren Verbreitung der Tests wesentlich höher liegen. Die Zahl der Krankenhausaufenthalte steigt in Schweden schneller als in jedem anderen EU Land, und die Pro-Kopf-Todesrate Schwedens ist um ein Mehrfaches höher als die seiner nordischen Nachbarn Finnland, Dänemark und Norwegen.

„Herdenimmunität war nie unser Ziel!“

Der Vater von Schwedens Strategie gerät immer mehr in Bedrängung.

Anders Tegnell, Schwedens Staatsepidemiologe, ist das stoische Gesicht der Strategie des Landes. Im Sommer sagte er Skeptikern, sie sollten bis zum Herbst warten, bevor sie ein Urteil über Schwedens Umgang mit der Krise abgeben. Er sagte voraus, dass Schweden ein höheres Maß an Immunität als seine Nachbarn erlangt hätte und dass die Auswirkungen einer zweiten Welle „wahrscheinlich ziemlich gering“ sein würden. Obwohl Tegnell behauptete, dass „Herdenimmunität“ nie ein Ziel für Schweden gewesen sei, schien er zu glauben, dass die relative Laxheit des Landes dem Land helfen würde, die schlimmste Pandemie langfristig zu überstehen.

Kein großer Unterschied, nur bei der Zahl der Toten

„Ich hoffte, dass er Recht hatte. Es wäre großartig gewesen. Aber er hatte nicht recht“, sagte Annika Linde, Tegnells Vorgängerin, gegenüber dem Daily Telegraph. „Jetzt haben wir eine hohe Todesrate, und wir sind einer zweiten Welle nicht entkommen: Immunität macht vielleicht einen kleinen, aber keinen großen Unterschied.

Ein dramatischer Mißerfolg

„Bisher hat sich Schwedens Strategie als dramatischer Misserfolg erwiesen“, sagte Lena Einhorn, eine schwedische Virologin und lautstarke Gegnerin ihrer Strategie, letzte Woche der Financial Times. „Vor vier Tagen hatten wir acht Mal mehr Fälle pro Kopf als Finnland und dreieinhalb Mal mehr als Norwegen. Sie sollten es laut Prognose im Herbst schlimmer treffen als uns, weil wir bis dahin weitgehend immun sein sollten“.

Virologe Tegnell will Weg trotzdem weitergehen

In jüngsten Interviews sagte Chefvirologe Anders Tegnell etwas trotzig: „Nein, wir werden diesen Weg weitergehen“ gegenüber Reuters.  Er betonte das Vertrauen der Schweden in ihre Regierung. Die Bevölkerung würde freiwillig den Empfehlungen der Gesundheitsagentur folgen. „So arbeiten wir hier in Schweden. Wir haben großes Vertrauen in die Behörden und halten uns an die Regeln“. Er fügte auch hinzu, dass Regierungen anderer Länder jetzt die Vorteile der schwedischen Strategie sehen werden. „Zum Beispiel schließt bei uns fast niemand Schulen“, sagte Tegnell.

Be- und Einschränkungen trotzdem erforderlich

Doch angesichts der wachsenden Zahl der Todesopfer glauben viele Experten, dass sich das schwedische Experiment seinem Ende nähert. Es ist ihrer Ansicht nach Zeit für systemische Änderungen der Strategie, und für einen  vollständigen Lockdown. „Wir haben in den letzten Wochen gesehen, dass die freiwilligen Einschränkungen nicht eingehalten werden“, sagte Fredrik Sund, Leiter der Klinik für Infektionskrankheiten am Universitätskrankenhaus in der schwedischen Region Uppsala, letzte Woche gegenüber dem staatlichen Fernsehsender SVT. „Bei einem solchen Anstieg der Infektionen, wie er jetzt stattfindet, ist es, als befänden sich die Zahlen in Schweden im freien Fall.

Auch kein größerer wirtschaftlicher Erfolg

Schwedens Wirtschaft, die stark von globalen Wertschöpfungsketten abhängig ist, hat wie die anderer EU-Länder gelitten, obwohl ihr die Regierung während der Pandemie keine Beschränkungen auferlegt hat. „Diese fehlenden Maßnahmen haben nicht nur zu mehr Infektionen und Todesfällen geführt, sondern der Wirtschaft auch nicht geholfen. Durch die vermehrten Krankenstände und Fehlzeiten wegen der hohen Ansteckungsraten haben dazu geführt das Schweden während der Pandemie wirtschaftlich schlechter abgeschnitten hat als andere nordische Länder“, schrieben die in Schweden ansässigen Forscher Kelly Bjorklund und Andrew Ewing. „Der schwedische Weg hat wenig gebracht außer Tod und Elend“.

Zu langsam, zu inkonsequent, zu undiszipliniert.

„Die schwedischen Behörden waren die ganze Zeit sehr langsam“, sagte Linde dem „Telegraph“. „Anstatt proaktiv zu sein, sind sie dem Virus hinterhergelaufen, und das Virus konnte sich zu stark ausbreiten, bevor sie Maßnahmen ergriffen haben.“ Es bleibt abzuwarten mit welche drastischen Schritten in den nächsten Wochen zu rechnen ist. Klar ist aber, dass das schwedische Modell die Prognosen und Erwartungen nicht erfüllt hat und die Strategien bis heute für durchschnittlich mehr Tote als im Rest Europas gesorgt haben.

Quelle: Reportage in der Washington Post von Ishaan Tharoor und Ruby Mellen